Originale der Sage vom „Schäfer Jesles Grab“

Aus dem städtischen Mitteilungsblatt

In der Fassung von Edmund Ries, Burgbernheim

Wer öfter mit Schäfern zu tun hat weiß, dass sie von jeher wahre Naturburschen sind. Sie sehen viel nach den Wolken und Sternen und beobachten Wind und Wetter, können sich aber auch stundenlang auf ihre Schäferschippe stützen und den weidenden Schafen zuschauen, was wir beim besten Willen nicht fertigbringen würden. Auch kennen sie jedes Pflänzchen am Wegesrand und wissen um deren Heilwirkung. Jeder Käfer und jedes Würmchen, das im Acker seine Nahrung sucht kann von ihnen beim Namen genannt werden. Sie wissen auch die besten Standorte der Bäume auf den Streuobstwiesen mit den schmackhaftesten Birnen, Äpfel und Zwetschgen und deren optimale Reife. Sie achten auf Schafe und Hunde, auf die tanzenden Mücken und auf alle Tiere in Busch und Feld. Aus diesen Naturbeobachtungen erkennen sie das Wetter von morgen und übermorgen. Kurz gesagt, es sind Sinnierer, besinnlich und nachdenkliche Menschen, in allem was sie sagen und tun. Sie sind aber fromm und gottesfürchtig und stolz auf ihren Beruf, weil sie schon in der Bibel genannt werden und dort eine wichtige Rolle spielen. Es gehört also eine ganz besondere Gabe dazu, den Beruf des Schäfers zu erlernen.

Dass es aber auch Ausnahmen von dieser Regel gibt, wissen die Burgbernheimer nur zu gut! So war der Schäfer Jesle aus Burgbernheim sicherlich kein Mann nach dem Herzen Gottes. Er hatte es viel besser, als die meisten seiner Berufskollegen. Stand ihm doch für seine Herde ein Naturparadies zur Verfügung, wie sie an Güte und Größe kaum ein zweites Mal im Frankenland zu finden war. Alle Schäfer der Umgebung sprachen nur mit Neid von der herrlichen „Burgbernheimer Hut“ und ihren saftigen Kräutern. Aber Jesle achtete wenig darauf. Er trug die Leber auf der Sonnenseite und saß gern und viel hinter einem Bierkrug, den die Wirtin vom Wirtshaus gar nicht oft genug füllen konnte. Sehr oft verließ er nachts den Pferch und wandelte auf krummen Wegen, so dass er tagsüber müde und abgespannt war und für seine Schafe keine rechte Freude mehr aufbringen konnte.

An einem heißen Sommertag trieb er seine Herde auf den steilen Schönberg, der einst eine stolze Burg getragen haben soll. Wegen des einmalig schönen Ausblickes wird er von der Bevölkerung heutzutage auch „Himmelfahrtsberg“ oder „Schauberg“ genannt. Jesle hatte jedoch keine Lust, die Aussicht zu genießen oder sich mit geschichtlichen Gedankengängen zu befassen. Eine wüst durchzechte Nacht lag wieder mal hinter ihm. Die Schwüle des Hochsommers drückte ihn zu Boden. So vertraute er die Herde seinem treuen Hund an und legte sich in die Hecke, um seinen Rausch auszuschlafen. Er merkte nicht, dass mächtige schwarze Wolken aufstiegen, dass Blitze zuckten und Donner rollten und dass mit der sinkenden Nacht ein schweres Gewitter hereinbrach. Ein unvorstellbar furchtbarer Schlag riss ihn plötzlich aus dem Schlaf. Wo war Hund und Herde?

Er konnte in der Finsternis nichts von ihnen entdecken. Außer sich vor Zorn stieß er fürchterliche Verwünschungen und Flüche aus und machte sich auf den Weg, die auseinandergelaufene Herde zu suchen. In der Finsternis stürzte er an einem Grabenrand und genau in diesem Moment schlug ein greller Blitz ein und erleuchtete die gesamte Gegend. Er sah, wie die Schafe, vom Sturm gepeitscht, über die steilen Höhen des Schönbergs flohen. „Hol euch der Henker!“ brüllte er ihnen nach. „Dass euch doch das Wetter in die tiefste Schlucht des Berges verschlünge, damit ich euch nie wieder zu Gesicht bekäme! Und dieser Wunsch ging augenblicklich und buchstäblich in Erfüllung. Ein Blitzstrahl wandelte für einen Augenblick die Nacht zum Tage und ein ungeheuerer Donnerschlag, den man bis weit in den Steigerwald noch hören konnte, ließ den Schönberg derart erzittern, dass sich sein Westhang löste und mit großen Erd- und Steinmassen in die Tiefe sank. Jesle fand dabei mit seiner ganzen Herde den Tod. Nur der treue Hund konnte sich retten. In finsteren Nächten streicht er noch immer über die wilden Hänge und Klüfte des Schönbergs und sucht klagend seinen Herrn und Herde. In der tiefen Schlucht aber erkennt man den großen Grabhügel, der die Herde mit dem ungetreuen Hirten birgt, auch heutzutage noch sehr gut.

Die Burgbernheimer nennen diesen Ort „Jesles Grab“ und fürchten sich ein wenig vor diesem Platz bis auf den heutigen Tag.